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AutorenbildMilan Zivkovic

Ein Modewort oder reale Gefahr?

In den letzten Jahren haben wir eine deutliche Zunahme der Diskussion über psychische Traumata erlebt, und das Konzept des „inneren Kindes“ wird oft als Schlüssel zur Heilung angesehen. Doch hinter dieser Bewegung steckt eine kritische Frage: Haben wir es mit einer echten psychischen Notlage zu tun oder mit einer Modeerscheinung, bei der alltägliche Schwierigkeiten als „Trauma“ abgestempelt werden? Ist die neue Generation tatsächlich „verweichlicht“, wie einige behaupten, oder erleben wir einfach eine stärkere Sensibilisierung für psychische Gesundheit?




Die Zahlen sprechen eine deutliche Sprache


Schaut man sich die Daten an, wird klar, dass die Diagnose von PTBS (Posttraumatische Belastungsstörung) in den letzten zehn Jahren signifikant zugenommen hat. Während 2008 etwa 3,3 % der Bevölkerung von PTBS betroffen waren, stieg dieser Wert bis 2017 auf 5,8 %. Berichte des Robert Koch-Instituts belegen ebenfalls, dass die Prävalenz psychischer Störungen, einschließlich PTBS, gestiegen ist. Diese Zahlen werfen die Frage auf, ob wir in einer zunehmend „übertraumatisierten“ Gesellschaft leben, in der jeder kleine Rückschlag als potenzielles Trauma betrachtet wird.


Vom Trauma zum Trend?

Früher wurde der Begriff „Trauma“ ausschließlich auf extrem schwerwiegende Ereignisse wie Kriegserfahrungen oder schwere Missbrauchsfälle angewendet. Heutzutage jedoch scheint es, als ob jeder zweite Mensch eine Art von Trauma in sich trägt. Kritiker warnen, dass dies zu einer Verwässerung des Begriffs führen könnte. Der Therapeut Christian Bachmann meint dazu: „Der Begriff des Traumas wird heute inflationär verwendet.“

Das Risiko hierbei ist, dass die Gesellschaft anfängt, alltägliche Lebenskrisen als Traumata zu behandeln. Eine schlechte Trennung oder das Gefühl, in der Kindheit nicht genügend Aufmerksamkeit bekommen zu haben, wird zunehmend als „Trauma“ eingestuft. Zwar gibt es eine berechtigte Debatte über die psychischen Folgen solcher Erfahrungen, aber gleichzeitig sollten wir uns fragen, ob wir es nicht übertreiben.


Ist die junge Generation „verweichlicht“?

Eine häufige Kritik, die mit der Zunahme von PTBS-Diagnosen einhergeht, ist die Frage, ob die jüngere Generation zu „weich“ ist. Manche behaupten, dass frühere Generationen „härter im Nehmen“ waren und sich weniger mit psychischen Problemen beschäftigten. Diese Argumentation greift allerdings zu kurz, denn die steigende Diagnosequote kann auch darauf hinweisen, dass jüngere Menschen eher bereit sind, Hilfe in Anspruch zu nehmen und ihre psychischen Herausforderungen ernst zu nehmen.

Dies könnte man als Zeichen einer fortschrittlicheren Einstellung zur mentalen Gesundheit sehen. Anstatt Probleme zu verdrängen, wie es frühere Generationen vielleicht taten, sucht die heutige Generation nach Wegen, um mit ihren inneren Konflikten umzugehen – sei es durch Therapie oder alternative Heilmethoden.


Der Blick unseres Fachexperten


Pedja, unser Fachexperte und Traumafachmann bei unserer Spitex, sagt folgendes:


"Der Zusammenhang zwischen der zunehmenden Prävalenz von PTBS/K-PTBS-Diagnosen, der verstärkten Nutzung des Begriffs „Trauma“ und der Sensibilisierung für mentale und psychische Gesundheit ist nicht zu unterschätzen. Generell lässt sich sagen, dass die Auseinandersetzung mit der eigenen mentalen Verfassung und Gesundheit ein relativ neues Feld ist. Früher hatten viele Menschen weder die Zeit, das Privileg noch das kognitive Verständnis, um diese psychischen Zusammenhänge zu erkennen. Psychiatrie und Psychologie sind im Vergleich zu anderen Disziplinen junge Fachbereiche, in denen in den letzten Jahren erhebliche Fortschritte erzielt wurden. Beispielsweise ist die PTBS erst 1980 als Diagnose im DSM aufgenommen worden. Das sind etwas mehr als 40 Jahre. Als Vergleich kennt man den Zusammenhang zwischen Nierenerkrankungen und Bluthochdruck seit ca. 1830.


Die heutigen Generationen setzen sich intensiver mit diesen Themen auseinander, da sie einerseits selbst erlebt und beobachtet haben, wie frühere Generationen damit umgingen (oder eben nicht umgingen) und welche Folgen dies für sie hatte (z.B. Suchtprobleme, Somatisierungsstörungen, Schwierigkeiten im Umgang mit Emotionen, Leistungsorientierung, Flucht in die Arbeit, Unfähigkeit zur Ruhe). Andererseits haben wir heute Zugang zu einer nahezu unbegrenzten Menge an Informationen, was früher nicht der Fall war. Diese erhöhte Bereitschaft und Fähigkeit zur Introspektion ist oft stärker ausgeprägt. Es besteht jedoch auch die Gefahr, dass eine Überidentifikation mit psychischen Defiziten entsteht. Daher ist es wichtig, sich nicht ausschließlich mit einer Diagnose zu identifizieren, sondern auch andere, funktionale Anteile der eigenen Identität zu fördern und ihnen Raum zu geben. Es ist entscheidend, zu verstehen: „Trauma ist mir widerfahren, ich habe möglicherweise eine Traumafolgestörung, aber ich bin viel mehr als das.“


Ebenso wichtig ist es zu verstehen, dass nicht jedes Trauma zwangsläufig zu einer Traumafolgestörung führt. Man kann ein Trauma erleben, das das Leben prägt, ohne eine PTBS oder K-PTBS zu entwickeln. Die Entstehung von Traumafolgestörungen wird von weiteren Einflussfaktoren neben dem eigentlichen Trauma bestimmt. Dabei ist es nicht sinnvoll, Traumata nach ihrer vermeintlichen „Schwere“ zu bewerten. Ein wesentlicher Faktor für die Entwicklung von Traumafolgestörungen ist die Reaktion des Umfelds und der allgemeinen Umgebung auf das Trauma. Wenn Betroffene unterstützt, angenommen und gesehen werden, wenn ihnen das Gefühl vermittelt wird, wichtig zu sein und nicht allein, ist es viel wahrscheinlicher, dass keine Traumafolgestörung entsteht. Im Gegensatz dazu sind Personen, die sich allein, unverstanden und unwichtig fühlen, stärker gefährdet, eine solche Störung zu entwickeln.


Zusätzlich ist unsere Wahrnehmung von Erfahrungen individuell geprägt und hängt von verschiedenen Faktoren ab, sodass nicht alle Menschen die gleiche Situation auf die gleiche Weise erleben. Hierbei spielen Resilienz, genetische Dispositionen, frühere Erfahrungen sowie beispielsweise auch Neurodivergenz eine relevante Rolle. So können Situationen, die für neurotypische Menschen leicht zu bewältigen sind, bei neurodivergenten Personen massiven Stress auslösen.

Natürlich sind diese Aussagen stark generalisiert und das Thema ist weitaus komplexer und nuancierter, als dass es in einem kurzen Blogbeitrag umfassend behandelt werden könnte."



Als Psychiatrische Spitex...

... sind wir direkt an der Lebensrealität unserer Klient beteiligt. Wir kommen nicht nur in die Wohnungen unserer Klient, sondern auch in deren Leben. Unsere Aufgabe geht weit über eine medizinische oder therapeutische Versorgung hinaus: Wir unterstützen psychisch kranke Menschen dabei, ihren Alltag zu bewältigen, ihre Autonomie zu stärken und ihnen eine stabile Struktur im täglichen Leben zu geben.

Unsere Kernaufgaben umfassen:

  1. Strukturierung des Alltags: Viele Klient haben Schwierigkeiten, einen geregelten Tagesablauf zu finden, insbesondere wenn sie unter Depressionen, PTBS oder anderen Traumafolgestörungen leiden. Wir helfen, Routinen zu entwickeln, die sowohl Stabilität als auch Sicherheit bieten.

  2. Psychosoziale Unterstützung: Wir arbeiten eng mit den Klient an ihren emotionalen Herausforderungen. Das bedeutet, dass wir nicht nur über Probleme sprechen, sondern auch praktische Lösungen im Alltag erarbeiten. Dies reicht von der Konfliktbewältigung bis hin zur Steigerung des Selbstwertgefühls und der Eigenverantwortung.

  3. Förderung der Selbstwirksamkeit: Indem wir die Klient bei alltäglichen Aufgaben begleiten, wie zum Beispiel der Haushaltsführung oder der Bewältigung sozialer Interaktionen, geben wir ihnen die Möglichkeit, wieder Vertrauen in ihre eigenen Fähigkeiten zu entwickeln.

  4. Prävention von Krisen: Wir sind oft der erste Kontaktpunkt, wenn sich eine Krise anbahnt. Durch unsere regelmäßigen Besuche und die enge Zusammenarbeit mit den Klient können wir frühzeitig eingreifen und präventiv tätig werden. Das verhindert häufig Eskalationen und stationäre Aufenthalte.

  5. Integrierte Therapien: Wir unterstützen die Behandlung, die durch Psychotherapeut und Psychiater durchgeführt wird, indem wir die Therapien im Alltag der Klient anwenden. Ob medikamentöse Unterstützung oder die Arbeit an therapeutischen Zielen – wir schaffen die Brücke zwischen Theorie und Praxis.



Fazit: Modeerscheinung oder Fortschritt?


Letztendlich stellt sich die Frage, ob wir in einer Gesellschaft leben, die übertraumatisiert ist, oder ob die zunehmende Sensibilisierung für psychische Gesundheit tatsächlich zu einem gesünderen Umgang mit Problemen führt. Es bleibt jedoch klar, dass der Begriff „Trauma“ mit Vorsicht verwendet werden sollte. Nur weil jemand emotionale Herausforderungen erlebt, heißt das nicht automatisch, dass er ein Trauma erlitten hat. Wir müssen lernen, zwischen echten traumatischen Erlebnissen und den alltäglichen Schwierigkeiten des Lebens zu unterscheiden – ohne dabei den Wert von psychischer Gesundheit zu entwerten.

Die Balance zwischen Überdiagnose und echter Hilfe ist entscheidend. Als Psychiatrische Spitex leisten wir einen wertvollen Beitrag, indem wir Menschen in ihrem gewohnten Umfeld unterstützen und ihnen helfen, trotz psychischer Erkrankungen ein möglichst selbstbestimmtes Leben zu führen.

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